L E S E P R O B E

Das Haarschneiden

 
...
 
B GESTALTUNG
  Kopfform, Gesichtsschnitt (Umriss),
  Proportionen.

Ich bat Claudia nach vorn, eine kleine, etwas
vollschlanke Frau. Ihr Gesicht war rund, aber
sie sah niedlich aus. Sie hatte einheitlich dunkel
gefärbtes Haar, das sie offen trug.

Die anderen Schülerinnen hatten jetzt die
Aufgabe, sie entsprechend den Gestaltungs-
merkmalen zu begutachten.

"Die Frisur passt nicht zu ihr, sie hat eine viel
zu hohe Stirn und ein rundes Gesicht," war
die Meinung einer Schülerin. Eine rief in die
Klasse: "Sie sieht aus wie ein kleiner Mops."
Bei dieser Bemerkung grienten einige.
Jemand anderes meldete sich: "Am Oberkopf
sollte sie mehr Volumen haben, das macht die
Kopfform länglicher." "Außerdem ist Claudia
für diese Frisur von der Körpergröße viel zu
klein und fett.", äußerte sich eine weitere.
"Sie sieht zwar niedlich aus, aber die Haare
müssen bedeutend kürzer sein, das würde
viel besser zu ihr passen.", war die Meinung
der Klassensprecherin. "Ich finde, Claudia
sieht mit der Frisur richtig blöd aus.", gab
noch eine Schülerin zum besten.

Ich brach die Diskussion ab. Claudia war
ganz traurig über die viele Kritik, die sie
ertragen musste und war den Tränen nahe.

Anmerkung
'Was habe ich da bloß angerichtet?' Und so
etwas will Pädagoge sein? Du Idiot!, ging es mir
sofort durch den Kopf. Ich hatte ja nicht geahnt,
dass junge Menschen, wenn es um Mode und
Kreativität geht, so herzlos untereinander sein
können. Ich war ratlos, denn die Diskussion
schien auszuufern. Wie sollte ich reagieren, um
Claudia aus der miesen Lage heraus zu holen, in
die ich sie unbewusst gebracht hatte? Da fiel
mir meine 'Wunderwaffe' wieder ein: Anwendung
von 'spontanen-praktischen Einlagen', die ich
anwendete, wenn ich die Schülerinnen für den
Unterricht stimulieren wollte.
Kamm, Bürste, Schere und Haarspray gehörten
genauso zu meiner Ausrüstung für den Unterricht
wie meine Aufzeichungen, Lehrbuch und die
aktuellsten Frisurenzeitschriften.

Deshalb habe ich Claudia vorn Platz nehmen
lassen. Mit Hilfe einer Haarbürste, Frisierkamm
und Haarspray sprach ich zu den
Schülerinnen: "Nachdem Sie Claudia
begutachtet haben, wobei ich mir von einigen
mehr Feingefühl gewünscht hätte und einige
Äußerungen sehr geschmacklos waren, werden
Sie jetzt Hinweise geben, wie ich
Claudia zu frisieren habe."
So habe ich den Oberkopf leicht toupiert,
mit den Fingern einige Fransen in die Stirn
gezogen und die Seitenpartien leicht aus dem
Gesicht herausfrisiert. Die Nackenpartie zur
Mitte frisiert, denn die Haare waren ja noch
nicht kürzer geschnitten. Am Schluss wurde
die Frisur mit Haarspray fixiert. Ganz so, wie
die Schülerinnen mir zuriefen.
"Wow!" - "Toll Herr Loss." - "Super." -
"Sie sieht jetzt richtig sexy aus." - "Claudia,
die Frisur steht Dir viel besser!" - "So müsstest
Du die Haare immer tragen!", um nur
einige Meinungen wiederzugeben. Eine reichte
ihr einen Handspiegel, den sie aus ihrer
Tasche holte. Nach intensiver Betrachtung
der Frisur versprach Claudia mit einem
leichten Lächeln, zum nächsten Unterricht
die Haare abschneiden zu lassen.
Mir fiel ein Stein vom Herzen; dass es mir
gelungen war, Claudia aus der miesen Lage
zu befreien und sie wieder zum Lächeln zu
bringen.

HINWEIS
Jede Gestaltung eines Haarschnittes und
einer Frisur setzt eine Geschmackssicherheit
und Kreativität eines Friseurs voraus. Dabei
ist zu beachten, dass Proportionen der
Frisur harmonisch zum Gesicht, zur Haarpartie
und zum Gesamtkörper des Kunden
stehen.
Auch sind naturgegebene Voraussetzungen,
wie anatomische Merkmale, zu berücksichtigen.
Um diese bei den Lehrlingen zu entwickeln,
sollte wir ihnen diesbezüglich mehr
Freiräume zum Handeln lassen, so wie in
meinem Beispiel bei Claudia. ...